Ich schreibe diesen Eintrag am 14. Juli 2008, am Tag nachdem bei diesem Lauf zwei Sportler umgekommen sind. Im Jahr 2006 bin ich den Zugspitzlauf bei optimalen Bedingungen selbst gelaufen und habe ihn als wunderschönes Erlebnis in Erinnerung. Umso schlimmer empfinde ich das traurige Unglück.
„Zugspitz-Extremberglauf“ – schon der Name dieses Laufs spricht für sich und lässt ein wenig erahnen, dass den Teilnehmer hier Besonderes erwartet. Nicht die Distanz von 18,3 km ist es, die einen etwas erschaudern lässt, sondern die Aussicht, auf dieser Strecke stolze 2.363 Höhenmeter überwinden zu müssen, um Deutschlands höchst- und Europas zweithöchstgelegenes Berglaufziel zu erreichen: Die Gipfelplattform der Zugspitze auf 2.960 m üNN. Und Kenner der „Szene“ wissen: Mehr Höhenmeter hat selbst der legendäre K 78 des Swiss Alpine Marathon nicht zu bieten. In den vergangenen Jahren hatten unerwarteter Schneefall und ein Brand der Tiroler Zugspitzbahn die Begehung des finalen Teilstücks ab dem Sonnalpin verhindert – in diesem Jahr stand dem Gipfelsturm jedoch nichts Wege.
Eine solche Herausforderung macht natürlich neugierig, und so verwunderte es nicht, dass weit über 700 Laufbegeisterte am frühen Morgen des 24. Juli 2005 über das idyllisch-beschauliche Ehrwald in Tirol hereinbrachen und sich zum Start auf dem zentralen Martinsplatz sammelten.
Schon um 8.30 Uhr fiel der Startschuss. Und wenige Minuten später wand sich ein noch kompakter Läuferlindwurm über einen Forstweg hinein ins dichte Grün des Gaistals. Links und rechts ragten Ehrfurcht einflößend senkrecht die Felswände des Wetterstein- und Mieminger Gebirges in den Himmel. In zahllosen, nicht allzu steil, aber stetig ansteigenden Serpentinen ging es bergan und schon jetzt verfiel so mancher Läufer konditionsschonend in zügiges Marschtempo. Nach fünf langen Kilometern war mit der Ehrwalder Alm auf 1502 m üNN die erste der sechs (!) Verpflegungsstationen an der Strecke erreicht - und knapp 500 Höhenmeter waren geschafft.
Entspanntes Dahintraben über saftiggrüne Almwiesen war nun angesagt. Das Glockengebimmel der interessiert den Läuferstrom beäugenden Kühe machte das Alpenpanorama perfekt. Einige Wanderer am Wegesrand dürften sich die Bergeinsamkeit aber wohl anders vorgestellt haben.
Die Zeit zur Regeneration währte nicht allzu lange – schon die nächste Station, die Berghütte an der Hochfeldernalm (1732 m üNN), markierte den Schlusspunkt der Gemütlichkeit. Ein steiler Pfad führte über Stock und Stein durch die immer karger werdende Vegetation bergan. Mehr als forsches Schritttempo war den meisten im Feld nicht mehr möglich. Die Gespräche verstummten, kaum jemand überholte noch, das Läuferfeld zog sich immer weiter auseinander.
Knapp über der 2000 Hm-Grenze war der nächste Kulminationspunkt, das Brandjoch, erreicht. Bei einem Becher Wasser, das die Helfer selbst in diese Abgeschiedenheit geschleppt haben, genoss ich kurz innehaltend den wundervollen Ausblick in das vor mir liegende alpine Seitental. Zu meinen Füßen stürzte der Bergpfad steil hinab, um in der Ferne genauso steil wieder nach oben zu streben, hinauf zum sogenannten „Gatterl“. Kurz vor dem Gatterl waren erstmals Kletterkünste gefragt; stahlseilgesichert musste man sich ein kurzes Stück Fels hochhangeln. Kein echtes Problem – aber Ursache für einen kleinen Rückstau. Das „Gatterl“ selbst markierte die Grenze von tirolerischem zu bayerischem Hoheitsgebiet. Wirklich originell in dieser Bergeinsamkeit waren die „Grenzanlagen“, bestehend aus zwei Landesflaggen und einer kleinen verriegelbaren Drahttür.
Jenseits des Gatterls war Konzentration angesagt, nicht weil es sonderlich bergan ging, sondern weil man auf dem Bergpfad gämsengleich von Fels zu Fels springen musste. Das bereitete nicht nur mir ein besonderes Vergnügen. Inmitten der nahezu vegetationslosen, aber umso grandioseren Felslandschaft tauchte die Knorrhütte (2051 m üNN) wie eine Oase in der Wüste auf. 5 km lagen nun noch vor mir - und nochmals fast 1000 Höhenmeter.
Und jetzt ging es richtig zur Sache. Ein steiler Pfad wand sich durch Geröllhalden den Hang empor. Schwer fielen die Schritte, schwer ging der Atem, man spürte die Höhe, vor allem, wenn man es wagte, auf flacheren Abschnitten wieder in den Laufschritt zu verfallen. Kleinere Schneefelder waren zu queren. Auf dem nassen, gepressten Schnee war es äußerst rutschig. Auffällig häufig wiesen Schilder als Motivationshilfen auf die verbleibende Entfernung zum Gipfel hin.
Und dann war es auf einmal zu sehen: Das Gipfelziel, das Zugspitzplatt mit seinen dicht gedrängten Aufbauten, in luftiger Höhe gelegen, aber zumindest optisch gar nicht mehr so weit weg. Anfeuerungsrufe aus der Ferne durchdrangen vereinzelt die Stille der Berge. Das machte Mut! Das Sonnalpin, Ziel vergangener Zugspitzläufe auf 2.588 m üNN, war nun relativ bald erreicht und ein Schild verkündete wenig später: „1 km“.
Um es gleich vorweg zu nehmen: es wurde der langsamste und wohl auch abenteuerlichste Kilometer meines Läuferdaseins – denn gleichzeitig waren noch 360 Höhenmeter zu bewältigen. Der Einstieg: Ein Steilhang voll Geröll. Ein Fortkommen war nur im Schneckentempo möglich. Nach einem mühevollen Schritt voran ging es einen halben im Rutsch zurück. Wie in einer Prozession schlichen die Läufer tief gebückt und schweigend auf Zickzackpfaden den Hang empor. So mancher torkelte verdächtig. Überholen war quasi unmöglich, sodass sich lange Ketten bildeten. Ein Warnschrei aus vieler Munde sorgte für einen kurzen Schreckmoment: Ein Felsblock donnerte den Hang herunter, losgetreten von einem der Marschierer im oberen Hang. Passiert ist zum Glück nichts.
Der Geröllzone folgte nach schier endlos langen Minuten der blanke Fels. An Stahlseilen entlang und über Stahlstifte hinweg wurde der „Lauf“ zur Kletterei. Auffällig präsent war die Bergwacht.
Plötzlich war der Berggrat erreicht: Eine grandiose Aussicht eröffnete sich über den jenseitigen wildzerklüfteten Bergabhang und den fast 2000 m tiefer gelegenen jadegrünen Eibsee. Das Ziel erschien zum Greifen nah - aber die Kletterei über den Grat zog sich hin. Spätestens hier kam aber wieder Leben in die ermatteten Geister – Tempo und Gespräche nahmen merklich zu. Der über den Grat hinweg ziehende kühle Wind tat ein Übriges.
Nach 3:20 Std. erreichte ich die Metalltreppen, die aus dem Fels hinauf auf die Aussichtsplattform der Tiroler Zugspitzbahn und vorbei an den johlenden Zuschauermengen ins Ziel führten. Ein rauschender Empfang wurde allen Ankömmlingen bereitet.
Mit der Medaille um den Hals und einem Freibier in der Hand genoss ich den Augenblick und wusste: Für das Gipfelglück muss man hier hart kämpfen – aber ich konnte mir keine schönere Art vorstellen, diesen Berg zu erobern.
Gerade mal 2:03:02 Std. hat der Sieger, der englische Berglaufspezialist Martin Cox benötigt, den anspruchsvollen Parcours zu bewältigen; mit 2:28:48 Std. war die Österreicherin Petra Summer die schnellste Frau. Das Gros der Läufer finishte in einer Zeit zwischen 3 und 4 Stunden, in der Zeiterfassung waren aber auch noch Läufer nach 5 ½ Stunden. Für viele dürfte die Zeit ohnehin Nebensache gewesen sein und das bloße Ankommen im Vordergrund gestanden haben. Geschafft haben es fast alle, die angetreten sind, und mitnehmen durften sie ein Lauferlebnis der besonderen Art, einen Lauf, der die Bergwelt in ihrer ganzen Vielfalt und von ihren schönsten Seiten geboten hat, einen Lauf, dessen Streckenprofil alle nur denkbaren Varianten bereithielt und läuferisch sicher auch Grenzerfahrungen vermittelte.
Von dem Lauf 2006 gibt es zwei schöne Bildberichte im Internet - von Uli Sauer (sogar mit einem Bild von mir) hier und von Klaus Eppele da.
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